Kreuz

Gott zeigt, dass er da ist

1. Korinther 15, 35-38

Ewigkeitssonntag/Totensonntag/Letzter Sonntag im Kirchenjahr

Fast täglich sehe ich ihn in unserem Schlafzimmer. Er steht vor dem Geschäftseingang seiner Eisenwarenhandlung in Elberfeld. Das Bild meines Großvaters – noch in schwarz/weiß – inmitten vieler anderer Farbbilder auf der Galerie. Dieses Foto bewahrte mein Großvater Zeit seines Lebens in seiner Brieftasche auf. Es gehörte zu seinem Leben dazu. Dort in Elberfeld – jetzt Wuppertal – hatte er seine Jugendjahre verbracht. 1945 wurde das Geschäftslokal zerbombt. Später lebte die Familie am Niederrhein und in Friesland, heimisch wurde er durch die Aufnahme in der Kirchengemeinde, wo er seine vielfältigen Begabungen einbringen konnte. Ich sehe sie noch heute auf dem Tisch liegen – die Rechnungsbücher der Kirchengemeinde, die er als Presbyter und Buchhalter prüfte; ich erledigte daneben oft meine Hausaufgaben für Mathematik und Deutsch. Mit seiner Geduld hat er mir oft geholfen und mit mir gerechnet und gelesen. Vieles habe ich von ihm gelernt; viel habe ich ihm zu verdanken. Mein Großvater. Ich liebte ihn sehr. Nach längerer Krankheit starb er. Was passiert nun mit ihm? Diese Frage hat mich lange begleitet. Und ich bin mir sicher, mit dieser Frage und mit solchen Gefühlen bin ich nicht allein.

Heute ist der sogenannte Totensonntag. In den Gottesdiensten landauf landab gedenken wir den Gemeindemitgliedern, die wir im vergangenen Jahr zu Grabe getragen haben. Wir nennen ihre Namen und zünden im Gedenken eine Kerze an. Wir laden ihre Angehörigen zu diesem besonderen Gottesdienst im Kirchenjahr ein. Gemeinsame Erinnerungen kommen hoch und uns werden die Lücken, der leere Platz bewusst, die diese Menschen hinterlassen haben. Jeder Verstorbene hat seine eigene Geschichte. Jeder Verstorbene hat ein bewegtes Leben mit Höhen und Tiefen gehabt. Bei manchen kam der Tod plötzlich, ohne Vorwarnung. Bei anderen war er absehbar. Aber im Moment des Sterbens dann doch unerwartet. Und in vielen Fällen auch nicht ruhig und nicht ohne Angst. Auf beiden Seiten. Es tut weh. Auch nach Jahren noch.   Heute werden viele zu den Gräbern gehen. Die Gräber sind liebevoll geschmückt worden. Wir denken heute an unsere Toten. Wir kommen mit unseren Fragen: Wo sind sie jetzt? Was ist mit ihnen? Das Glaubensbekenntnis gibt eine Antwort: Ich glaube an die Auferstehung der Toten.  Sonntag für Sonntag sprechen wir diese Worte im Gottesdienst. Es gehört zum Grundbestand unseres christlichen Glaubens. Die Frage „Was ist nun?“ ist eine absolut menschliche Frage. Jede und jeder hat sich diese Frage schon einmal gestellt. Es geht aber weiter: Wie soll ich mir das vorstellen? Wie werden die Toten auferweckt? Die ersten Christen hatten auch diese Fragen. Folglich hat sich der Apostel Paulus versuchte sie im heutigen Predigttext zu beantworten:

1. Korinther 15, 35-38.42-44a (Lesung nach der Übersetzung der BasisBibel)

In seinem 1. Brief an die Korinther, im großen Auferstehungskapitel 15 spricht Paulus über die Auferstehung Jesu und die Auferstehung der Toten. Wir sehen hier, dass sich Paulus mit den Fragen des Alltags beschäftigt: Was? Wie? Wo? Paulus sucht nach Bildern. Er findet ein Bild aus der Natur. Gesät wird das Korn und es wächst daraus ein Halm. Je nach Getreidesorte sieht dieser Halm ganz unterschiedlich aus. Der Bauer, der diese Körner in die Erde wirft, ist Gott. Gott sorgt dafür, dass aus diesen Körnern etwas wird. Das Korn in diesem Bild ist der Mensch. Es ist wohl so, dass oft etwas sterben muss, damit etwas Neues entstehen kann.

Im November rede ich immer wieder mit meinen Schüler*innen in der Grundschule über das Thema „Sterben“. Was geschieht eigentlich, wenn jemand stirbt? Muss jeder Mensch sterben? Wie tief ist ein Grab? Und wohin geht der Mensch, wenn er stirbt? Kinder stellen diese Fragen immer wieder. Ganz unbefangen. Erwachsene hingegen tun sich oft schwer,  darüber zu sprechen. Kinder sollten aber mit ihren Fragen nicht alleingelassen werden. So selbstverständlich der Tod und das Abschiednehmen im Leben sind, so selbstverständlich gehören sie auch beispielsweise in ein Kinderbuch. Beim Trauern gibt es kein Richtig oder Falsch. Schon gar nicht, wenn Kinder traurig sind. Wie fühlt es sich an, wenn ein Mensch, der einem am Herzen liegt, stirbt? Wie fühlt es sich an zu trauern?

Jeder Mensch trauert anders: Die einen wollen in Ruhe gelassen werden, die anderen können in dieser Zeit nicht allein sein. Die einen wollen gehalten werden, die anderen darf man überhaupt nicht berühren. Es gibt viele Arten, traurig zu sein, und jede ist in Ordnung.

Manchmal muss aber oft auch etwas sterben, damit etwas Neues entstehen kann. Mit meinen Schülern in der Grundschule schaue ich mir oft ein Bilderbuch zu diesem Thema an. Als Kind habe ich es sehr geliebt. Ich kenne es aus meinem eigenen Kindergarten. „Die kleine Raupe Nimmersatt.“  Eine Raupe frisst sich durch ihr Leben. Sie frisst so viel, dass es ihr schlecht wird. Sie baut sich ein enges Haus, einen Kokon und bleibt in diesem zwei Wochen. Sie braucht nichts mehr zu essen und plötzlich verwandelt sie sich. Aus der Raupe wird ein wunderschöner bunter Schmetterling. Manchmal muss etwas sterben, damit Neues entstehen kann.

Vielleicht zweifeln wir gar nicht an der Tatsache der Auferstehung.  Was uns umtreibt ist viel mehr die Frage: wie wird es sein? Werden wir all das nachholen, was wir versäumt haben? Wird uns wieder zurückgegeben werden, was uns genommen wurde?  Werden wir jemals wieder unbeschwert lachen können? 

Damals in Korinth gab es Zweifel an der Auferstehung.  Hartnäckig fragten die Menschen nach: Wie werden die Toten auferstehen? Was für einen Leib werden sie haben? Manche fragten so, weil sie es nicht glauben konnten, dass die Toten auferstehen werden, manche fragten, weil sie es sich vorstellen wollten, wie das sein wird, wenn die Toten auferstehen. 

Paulus sagt: die Auferstehung übertrifft alle unsere Erwartungen! Unser irdisches Leben ist wie das Weizenkorn, das ausgesät wird – die Auferstehung ist wie die Ähre, die sich im Wind bewegt. Sie sieht ganz anders aus als das Korn und sie trägt viele neue Körner in sich. Das macht Gott durch seine Schöpferkraft! Der Mensch stirbt wie das Korn. Er stirbt ganz und gar, mit Haut und Haar und Gott schenkt ihm einen neuen Leib, der unsere Vorstellungen übersteigt. Ja, die Auferstehung übertrifft unsere Erwartungen! Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft.

Ich habe diese Bilder vor Augen: Korn und Ähre sowie Raupe und Schmetterling. Was wird aus dem Korn, was wird aus der Raupe? Ich selbst bezeichne die Raupen als keine besonders schönen Tiere. Schön sind Raupen erst nach ihrer Verwandlung. Ich nehme diese Bilder und weiß: es bleiben Bilder. Es sind keine Fakten und keine Beweise. Ich erkenne in den Bildern: Nur da, wo etwas stirbt, kann etwas Neues entstehen. Mir ist völlig bewusst: vom Leben nach dem Tod und von der Auferstehung kann man nur in Bildern reden. Vielleicht lässt sich ein wenig Wahrheit in diesen Bildern erahnen und spüren. Für mich sind es Bilder, die uns nahe sind. Es sind Bilder, die uns trösten sollen. Es sind Bilder, die auch etwas über uns Menschen und mich sagen. Ich kann die Auferstehung nicht beweisen. Kein Mensch kann das. Und trotzdem vertraue ich darauf. Warum? Weil Gott es uns vorgemacht hat. Gott hat uns gezeigt, dass es geht. Er hat seinen Sohn als einen Menschen in unsere Welt geschickt; als einen von uns. In wenigen Wochen erinnern wir uns zu Weihnachten wieder daran.

Als Mensch unter Menschen hatte Jesus es auf dieser Erde nicht leicht. Sein Leben war oft nicht einfach. Er wurde angefeindet. Von den Pharisäern, von den Schriftgelehrten, sogar von seiner eigenen Familie. Die Leute damals haben ihn nicht immer richtig verstanden. Oft noch nicht einmal seine Jünger. Er wurde verraten und verleugnet. Er landete vor Gericht und wurde schuldig gesprochen. Er starb am Kreuz. Und dann geschah das große Wunder: Am dritten Tage auferstanden von den Toten. Der Gekreuzigte – und dennoch Lebende. Der Auferstandene.

Die Auferstehung Christi von den Toten hat Folgen. Die Auferstehung gibt uns Hoffnung. Die Auferstehung will uns verdeutlichen: Es gibt ein Morgen. Ein verschlossenes Grab war auf einmal offen und leer. Die Jünger Jesu haben nach Ostern erfahren, dass Jesu Tod nicht das Ende ist. Sie erkannten, dass das, was er mit ihnen begonnen, was er gewollt hat, weitergeht. In seinem Geist haben die Jünger weitergelebt und gehandelt.

Wie kann ich heute von Jesus reden, wie in seinem Geist leben? Vielleicht so: In seinem Sinn reden und leben heißt, in den drängenden Lebensfragen unserer Zeit Partei ergreifen, sich aufmachen, sich bewegen und dahin Licht bringen, wo es dunkel ist. Ohne Hoffnung, dass es in allem Dunkel ein Licht gibt, ist das Leben an den Totensonntagen nicht denkbar.  Mit der Auferstehung will Gott uns Hoffnung geben. Gott zeigt, dass er da ist. Auch mitten im Leid. Oft erlebe ich darum hier, wie es schon der Psalmist sagt: Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. (Psalm 73, 23f). Oft wurden diese Psalmworte in diesem Jahr für Trauerpredigten ausgewählt. Auf einmal beginnen Worte der Bibel zu sprechen und bekommen eine ganz persönliche Bedeutung. Auf einmal wird mir klar: Zu Gott kann ich immer kommen, er lässt mich nicht fallen. Und v

Vielleicht schickt dir Gott einen Menschen, der genau weiß, was du gerade brauchst. Ein tröstendes Wort, eine Geste oder die tatkräftige Hilfe, weil du es allein gerade nicht mehr schaffst. Eine breite Schulter, an der du weinen kannst und darfst oder einen Menschen, der mit dir gemeinsam weint.

„Wer könnte atmen ohne Hoffnung“, sagt die Dichterin Rose Ausländer. An dieser Hoffnung können wir uns ausrichten, wer auf seinem Weg Orientierung haben will.

Fürbittengebet:

Barmherziger Gott, wir haben in diesem Kirchenjahr Menschen loslassen müssen, die wir gerne bei uns behalten hätten. Wir haben Tränen geweint um die, die uns lieb waren und bleiben. Uns haben die Stille und der leere Platz erschreckt, die nach dem Abschied blieben. Wir haben Ratlosigkeit gespürt, als wir einander trösten wollten. Guter Gott, trage du unsere Trauer und unsere Hilflosigkeit. Wir bitten dich, gib uns Zeichen dafür, dass wir Antworten finden auf die Fragen, die geblieben sind. Hilf du uns glauben, dass deine Liebe uns trägt und uns durch den Tod zum Leben führt. Amen.

Psalmvorschlag: Psalm 73, 23.26.28
Evangelium: Johannes 5, 24-29
Lesung: 5. Mose 34, 1-8
Liedvorschläge:  450, 1-3 (Morgenglanz der Ewigkeit)
    147, 1-2 (Wachet auf, ruft uns die Stimme)
    98, 1-3 (Korn, das in die Erde)
    526, 1.2.6.7 (Jesus, meine Zuversicht)
     535 (Gloria sei dir gesungen)

Diese Predigt wurde für den Ewigkeits-/Totensonntag am 22. November 2020 für die Zeitschrift Pastoralblätter, Predigt – Gottesdienst – Seelsorge – Die Praxis, erschienen im Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH verfasst.