Auf Adlerflügeln getragen.

2. Mose 19, 1 – 6



Der heutige Sonntag dient dazu, unser eigenes Verhältnis zu Gottes Volk Israel damals und heute neu zu bedenken. Gott schließt einen Bund mit seinem Volk Israel und auch mit uns, seiner Kirche. Und schon höre ich die Skeptiker, dass die Religion des Judentums doch gesetzlich und so streng sei. Da gehe es um peinliche Einhaltung der Gebote und wehe, wenn nicht. Ich muss also versuchen, alles Mögliche zu tun, um mir Gottes Liebe zu verdienen. Erst wenn ich mich korrekt an alles halte, schließt Gott mit mir einen Bund für das Leben. Werkgerechtigkeit wird der jüdischen Religion vorgeworfen.
Unser Predigttext hingegen stimmt in dieses Vorurteil nicht ein, sondern sagt da etwas ganz anderes. Da spricht Gott zu seinem Volk: „Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.“ (Vers 4)
Das Bild, dass Gott mich auf Adlerflügeln trägt, spricht mich besonders an. Bei Adlern ist das tatsächlich so, wenn sie ihre Jungen bekommen. Kaum machen die Jungen ihre ersten Flugversuche, stürzen sie oft ab, werden aber auf wunderbare Weise von ihren Eltern, die ihre großen Flügel ausbreiten, aufgefangen. Die Jungen können also eine sanfte Notlandung machen und werden zu ihrem Nest zurückgebracht. Ist das nicht wunderbar?
Das Bild vom Adler überträgt hier Gott auf sein liebevolles Verhältnis zu seinem Volk. Gott selbst tut etwas Wunderbares, etwas Liebevolles aus freien Stücken. Er erwählt sich sein Volk Israel und sondert es von allen Völkern aus. Es ist in ganz besonderer Weise sein Eigentum. Noch bevor ich etwas tue und leiste, ist Gott längst schon da, wendet sich mir zu und trägt mich durch das Leben.


Gott hat das Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten befreit und es in der nicht leichten Wüstenzeit getragen. Immer wieder schließt Gott einen Bund mit seinem Volk. Er verbindet sich mit ihm. Ein Bund ist wie ein Vertrag, jeder gibt etwas dazu, und Vertragspartner verpflichten sich zur Vertragstreue. Gott bindet das Volk Israel an sich, er gibt ihm seinen Schutz. Gott erwartet aber auch etwas. Er erwartet die Bundestreue seines Volkes. Gott steht zu seinem Bund und lässt seine Kinder nicht auf die Erde fallen. Er gibt ihnen den Anstoß, fliegen zu lernen und er erwartet, dass sie nie vergessen, wo ihr Nest war.


Mit dem Bild des Adlers verbinde ich aber auch die Freiheit. Stellen wir uns einfach einmal vor, wie ein Adler über den Dingen zu schweben. Die Probleme und Sorgen des Alltags werden aus dieser Perspektive immer kleiner. Was zunächst noch ein unüberwindbares Hindernis gewesen ist, erscheint jetzt plötzlich lächerlich einfach.
Immer wieder einmal diese Perspektive einzunehmen hilft uns, dem Hamsterrad zu entfliehen, darauf zu vertrauen, dass wir die nötige Kraft bekommen werden, die wir brauchen, um die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern.


Freiheit heißt auch, sich nicht abhängig zu machen von der Meinung und den Urteilen anderer Menschen. Wie viel Energie verschwenden wir daran, uns den Kopf darüber zu zerbrechen, was die anderen wohl über uns denken und welches Bild wir nach außen abgeben. Wie oft machen uns achtlos daher gesagte Bemerkungen anderer noch tagelang schwer zu schaffen, weil wir uns ungerecht beurteilt fühlen. Es ist vergebliche Mühe zu versuchen, es allen recht zu machen. Wichtig ist allein, sich selbst darüber klar zu werden, was mir wirklich wichtig ist im Leben. Als Christinnen und Christen glauben wir daran, dass Gott für jede und jeden von uns einen Plan hat. Er hat Talente und Begabungen in uns gelegt, die wir nach Kräften entfalten sollen. Nicht die Meinungen und Erwartungen der anderen sollten mein Handeln bestimmen, sondern allein der Plan, den Gott für mein Leben hat. Gerade heute soll uns bewusst gemacht werden, dass Gottes Gnade und Liebe am Anfang steht und uns immer trägt. Das ist etwas Wunderbares und Wesentliches für den Glauben seines Volkes Israel und auch für meinen eigenen Glauben. Gott steht treu zu seinen Verheißungen. Mein Glaube und meine Hoffnung können mich tragen. Versuchen wir danach zu leben. Werden wir ein Segen für uns und unsere Mitmenschen! Gott steht uns zur Seite – auch mit Adlerflügeln.

Diese Predigt wurde für den 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag) zum 08. August 2021 für die Zeitschrift Pastoralblätter, Predigt – Gottesdienst – Seelsorge – Die Praxis, erschienen im Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH verfasst.