Berge sind Aussichtspunkte

Jesaja 54, 7 – 10

Lätare

Zunächst lade ich in Gedanken nach Österreich ein. Von Salzburg und Tirol kennt man die Berge als Naturwunder. Unglaublich schön. Auch im eher flachen Burgenland im Osten Österreichs zur Grenze Ungarns gibt es Berge. Der höchste Berg des Burgenlands und Westungarns liegt auf meinem Gemeindegebiet der Evangelischen Pfarrgemeinde A.B. Rechnitz. Gemeint ist der Geschriebenstein. Der Geschriebenstein ist mit 884 Metern der höchste Punkt des Günser Gebirges und der östlichste Ausläufer der Zentralalpen. Der Gipfel befindet sich nördlich von Rechnitz und südlich von Lockenhaus an der österreichisch-ungarischen Grenze.  Das Gebiet wird vom Naturpark Geschriebenstein-Írottkö umfasst, dem ersten grenzüberschreitenden Naturpark zwischen Österreich und Ungarn. Direkt an der Staatsgrenze steht seit 1913 ein von der Gemeinde Rechnitz erbauter Aussichtsturm aus Stein und nach dem Vertrag von Trianon verläuft die Grenze zwischen Österreich und Ungarn seit 1920 mitten durch den Aussichtsturm, wie ein Grenzstein im Turn zeigt. Der Eingang zum Aussichtspunkt befindet sich auf der österreichischen Seite. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist dort seit 2001 der Grenzübertritt möglich. Über den Geschriebenstein führt auch ein europäischer Fernwanderweg.

Gerne wandere ich zu dem Aussichtspunkt und staune. Über Berge kann man staunen und es gibt natürlich noch viel höhere Berge als den Geschriebenstein direkt vor meiner Haustüre. Was aber ist an den Bergen so faszinierend? Allein schon ihre Größe und Masse machen die Faszination aus. Oder: Was mag so ein Drei- oder Viertausender wohl wiegen? Die Gewichtsmassen sind für mich unvorstellbar. Unverrückbar steht solch ein Berg da. Ein Berg hat einen festen Ort und das Felsmassiv eines großen, mächtigen Berges strahlt deshalb nicht nur Größe, sondern auch Beständigkeit aus. Ein Berg kann nicht einfach so einmal versetzt werden und abgetragen werden. Das geht nur auf der Modelleisenbahnplatte. Berge haben ihr Gewicht und ihren Ort. Berge sind beständig. Selbst wenn sich in unserer Welt oder unserem Leben viel verändern mag; die Berge bleiben. Berge stehen fest über Jahrmillionen. In einer Erzählung wird diese Dauer über Millionen Jahren über diese kaum vorstellbare Zeitdimension noch anschaulicher: Alle tausend Jahre einmal – nur alle tausend Jahre – kommt ein Vogel an einen Berg. Setzt sich oben auf den Gipfel. Dort an diesem Fels wetzt dieses kleine Tier seinen Schnabel mit kurzen, schnellen Bewegungen. Dann fliegt der Vogel wieder weg. Wenn dann der ganze Berg abgewetzt ist, ist erst eine Sekunde der Ewigkeit vergangen. Das ist Beständigkeit.

Auch Jesaja kommt es in unserem Predigttext auf diese Beständigkeit an. Er denkt dabei an die Güte und Freundlichkeit Gottes. Für ihn ist Gottes Güte und Gnade beständig und dauerhaft. Seine Freundlichkeit steht fest für alle Zeit und Ewigkeit. „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht vor dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“

Das sind ganz klare Worte und damit ist alles auch gesagt. Ohne Zweifel steht fest, wie Gott in seinem Wesen ist. Sein Wesen vereint Güte und Barmherzigkeit, Heil und Frieden, Liebe und Fürsorge. Jesaja malt uns hier ein herrliches Bild. So fest, wie die Berge stehen, so unumstößlich ist auch die Freundlichkeit Gottes. Und wenn es einmal geschehen sollte, dass ein Berg ins Wanken geraten würde, Gott bliebe uns zugewandt. An der Güte Gottes soll niemand zweifeln und erst recht nicht verzweifeln. Niemand! Der Prophet möchte, dass alle auf seine Freundlichkeit vertrauen und Jesaja hat hier Menschen vor sich, die auf schmerzliche Weise die andere Seite von Gott erfahren haben. Es sind Menschen, die ganz und gar nicht gewisse sein können, dass Gott ihnen freundlich und gütig zugewandt ist. Jesajas Zeitgenossen wurden aus ihrer Heimat verschleppt und leben jetzt in der Ferne. Abgeschnitten von allen Gewohnheiten und die Angst vor dem Morgen macht sich da breit. Kein Wunder, wenn da Menschen sich vorkommen, als wären sie abgeschnitten von der Gnade Gottes. Zwangsweise müssen sie dort in Babylon, in der Fremde, leben. Ihr Herz ist schwer. Es tut immer noch weh. Auch nach vielen Jahren noch quält ein Schmerz über die fremde Lebenssituation. Man lebt eingeschränkt und bevormundet. Das Heimweh ist spürbar und man denkt an vergangene bessere Zeiten. Da stimmte die Welt noch: Das Land war noch nicht verwüstet, das Gotteshaus noch nicht zerstört und Gott hatte man auf seiner Seite.

Plötzlich ist alles anders geworden. Wo ist dieser gnädige Gott? Gibt es diesen gnädigen Gott überhaupt noch, an den die Vorfahren geglaubt haben? Was ist mit ihm? Zeigt er sich überhaupt nicht mehr? Ist er komplett verstummt? Wo ist Gottes Wirksamkeit geblieben? Wie verhält er sich denn gegenüber seinem Volk? Mit dem Volk Israel hatte er doch einen Bund geschlossen und ihm Treue versprochen?

Das Beruhigende: So ganz vergessen haben die Israeliten in der Fremde ihren Gott nicht. Der Sabbat ist ihnen wichtig, ebenso die Beschneidung und die zehn Gebote. Dennoch ist ihr Glaube erschüttert. Sie fühlen sich alleingelassen. Es kommt ihnen vor, als ob Gott sein Angesicht abgewendet hat. Jetzt kommen sich die Israeliten vor, als seien sie ganz auf sich gestellt. Ohne Beistand, ohne göttliche Hilfe, ohne den Schutz des Allmächtigen. Ihre schwierige äußere Lage wirkt sich auch auf den Glauben aus. Müde sind sie geworden und die Hoffnung liegt am Boden und es tauchen Fragen auf: Wenn dieser Gott überhaupt noch da ist, dann nur noch verborgen. Wenn dieser Gott aus früheren Zeiten etwas bewirken kann, dann nur noch in einer finsteren Hoffnung. Gottesferne und Gottesfinsternis bedrücken das Herz. Die Auswirkungen der Gottesferne und Gottesfinsternis waren damals so. Heute nehmen wir Gottesferne und Gottesfinsternis anders wahr. Wir leiden darunter, dass der christliche Glaube an Bedeutung verliert. Wir leiden darunter, dass die Menschen – vor allem junge Menschen – so schwer für die Kirche zu begeistern sind. Wir leiden auch darunter, dass die verschiedenen Vorstellungen über den Glauben und die Kirche immer schwerer zusammenzuhalten sind. Angesichts brennender Zukunftsfragen haben wir als Kirche es auch schwer gehört und verstanden zu werden. Und wir können in aktuellen Fragen auch nicht klar und deutlich sagen, was gut und richtig ist. die letzten zwei Jahre haben das nochmals deutlich gezeigt. Wir fühlen uns alleingelassen mit großen herausfordernden Themen der Zeit: Wie gehen wir mit der Schöpfung, mit den Tieren und Pflanzen um? Was machen wir mit unserem Wasser, der Luft, den Energiereserven und den Rohstoffen? Sind wir sorgsam genug? Wie weit dürfen wir die Möglichkeiten der Bio- und Gentechnologie nützen?

Gottesferne und Gottesfinsternis erfahren wir auch darin, dass wir es kaum schaffen, in unserem eigenen Lebensumfeld glaubwürdig zu sein; auch nicht in der Kirche. Es gelingt uns nicht, durch unser Handeln wirklich überzeugen zu können. Gottesferne und Gottesfinsternis bedrücken das Herz einzelner Menschen. In eigenen Leiderfahrungen und in persönlichen Schwierigkeiten scheint Gottes Segen nicht mehr erfahrbar zu sein. Von Gottes Schutz wird nichts spürbar. Seine Gnade und Barmherzigkeit lassen auf sich warten. Haben wir da als Kirche nicht auch ein Stück versagt? Hätten wir und nicht stärker mit unseren Sympathisanten beschäftigen sollen? Nein, wir haben lieber mit in unseren Synoden und Gremien die Statistiken von Kirchenaustritten und Sterbefällen ausgewertet. Kein Wunder, dass Gott sein Angesicht abgewendet hat und uns Menschen allein lässt. Wir sind auf uns gestellt mit dem Leid und Leiden. Niemand anders hat der Prophet vor Augen als solche Menschen. Gerade an diejenigen wendet er sich zu, denen es so ergeht. Er redet zu den belasteten Herzen, zu denen, die den Kopf nach unten gesenkt haben und nicht mehr aufrecht gehen können.

Und Gott , dein Erlöser spricht trotzdem: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.“ Und: „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.“ Die Folge ist: Gottesferne und Gottesfinsternis. Dass Gott sein Angesicht im Zorn abwendet, passt eigentlich gar nicht zu ihm. Das ist untypisch. Eigentlich will er gar nicht zornig sein, sondern gütig und gnädig. Der Zorn dagegen ist sein Unwille. Die, die hier oder dort in Gottesferne und Gottesfinsternis leben, erfahren nicht das Wesentliche von Gott. Sie bekommen gar nicht mit, was er will. Denn nur für einen Augenblick wendet Gott sein Angesicht ab im Zorn. Dauerhaft ist er gütig und gnädig. Um das hervorzuheben führt der Prophet uns das Bild von den Bergen vor Augen.

„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ Das ist ein wunderbares Versprechen Gottes an uns. Es gründet in Gottes Liebe. Wir können ihm Glauben und Vertrauen schenken.

Den klarsten Ausdruck der Liebe Gottes zu uns Menschen haben wir in Jesus Christus. Die Liebe zeigt sich darin, was er an Heil bewirkt an Kranken, Schwachen und gebrochenen Herzen. Da wird die Gottesfinsternis durchbrochen und es blüht neues Leben auf: bei Stummen, Gelähmten und Gekrümmten. Was Jesus bewirkt, unterstreicht die Güte Gottes zu uns Menschen doppelt und dreifach – auch wenn wir das auf den ersten Blick gar nicht so genau erkennen können. Hinter allem und über allem steht aber Gottes Heilswille. Wunderbar.

Ich brauche ab und zu meinen Aussichtspunkt auf dem höchsten Berg des Burgenlandes, dem Geschriebenstein. Ich brauche auch die ein oder andere erhabene Kirche mit ihren alten, dicken Mauern und Gewölben, die zum Himmel streben. In denen verläuft die Zeit anders. In denen atme ich anders. In denen kann ich aufrechter gehen und meine Augen fangen an, anders hinzusehen und hinzuhören. Ich brauche den hohen Berg, diese Orte, die das Unsichtbare sichtbar machen. Ich brauche diesen Perspektivwechsel, die einen Ausschnitt aus dem Unendlichen zeigen. Ich brauche Orte und Menschen, die mich daran erinnern und mir zeigen, dass das Leben ein Geschenk ist, das ich jeden Tag neu auspacken kann. Ich brauche Orte und Menschen, die mir zeigen, dass Gott mich nicht fallen lässt.  Ich brauche auch Menschen, die mir helfen, die vielen Zumutungen des alltäglichen Lebens auszuhalten. Ich brauche Menschen, die mich trösten und Orte, die mich bergen.

Ja, wir brauchen Menschen und Orte, die uns spüren lassen, dass wir Gesegnete sind, die uns erinnern: ihr seid gesegnet und ihr sollt ein Segen sein. Gott lässt uns nicht fallen, darüber dürfen wir uns mitten in der Passionszeit freuen. Amen.

Eingangsgebet: Barmherziger Gott, wir sind manchmal trostlos und dann wiederum hoffnungsfroh. Wir suchen dich in allen Lebenslagen. Darum bitten wir dich: Schau du auf unser Leben. Heute, mitten in der Passionszeit hören wir: Freut euch! Und in uns dämmert es. Du willst die Freude sein. Du willst die Gnade sein. Du willst der Friede sein. Mehr geht doch fast gar nicht. Du verwandelst alles zur Hoffnung hin. Du bist unser großer Trost. Danke schon jetzt dafür. Dir gehört die Ehre allezeit!

Fürbittengebet: Gott, das Kreuz Christi verwandelst du. Das liegt in deiner Macht. So beten wir voll Vertrauen zu dir. Verwandle uns: Durch dürre Gedanken und Spiralen der Angst, durch Zweifel und Sorge hindurch lass uns hören von der Freude durch dich. Verwandle unser Miteinander gegen Missgunst und Neid, gegen Vordrängeln und Abwerten. Lass die Freude am Anderen in uns klingen. Verwandle unsere Welt: Wenn Macht und Krieg um sich schlagen und das Gute und den Frieden niedertrampeln, möge unser Gebet um den Frieden herzhaft bleiben. Gott, du weckst uns auf zum Wohl deiner Schöpfung. Dafür danken wir dir. In der Stille sagen wir dir, was uns jetzt bewegt und für wen wir dich bitten (Stille).

Psalmvorschlag: Psalm 84, 6 – 13
Evangelium: Johannes 6, 47 – 5129
Epistel: Philipper 1, 15 – 21
Liedvorschläge:  455, 1-3 (Morgenlicht leuchtet) | 98, 1-3 (Korn, das in die Erde) | 396, 1-3+6 (Jesu, meine Freude) | 295, 1-4 (Wohl denen, die da wandeln) | 171, 1-4 (Bewahre uns Gott)   
 

Diese Predigt wurde für den Sonntag Lätare am 19. März 2023 für die Zeitschrift Pastoralblätter, Predigt – Gottesdienst – Seelsorge – Die Praxis, erschienen im Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH verfasst.